Auf der Rruga Kol Idromeno flaniert und diniert abends die ganze Stadt, im Hintergrund die al-Zamil-Moschee. Luftbild von Shkodra im Drina-Tal. – (c) imago/robertharding (Ben Pipe Photography)
Moscheen sind für alle Menschen offen. Kinderwagen, Autos und Radfahrer teilen sich die Straßen. Shkodra ist eine entspannte Stadt in Albanien. Vielleicht, weil die Geschichte so ganz anders war.
Von Michaela Ortis
14.05.2018 um 17:21
Ich bin Katholikin und mit einem Muslim verheiratet, das ist bei uns alles ganz easy“, erzählt Gloria. Die junge Frau wohnt in Shkodra, der ältesten Stadt Albaniens, und diese hat einen entspannten Zugang zu Religion – heutzutage ein bemerkenswertes Vorbild. Im Kommunismus war dies anders, Enver Hoxha rief 1967 den weltweit ersten atheistischen Staat aus. Er ließ Kirchen und Moscheen zerstören und verfolgte Geistliche, ließ sie foltern, schickte sie in Arbeitslager. Shkodra traf es besonders schwer, davon zeugt das neu eröffnete Site of Witness and Memory Museum an jenem Ort, an dem die ehemalige Geheimpolizei Sigurimi ihr Gefängnis hatte. Die Gotteshäuser sind heute neu aufgebaut, nahe dem Glockenturm der Franziskanerkirche steht die Moschee Ebu Bekir, die jede und jeder besuchen kann; es genügt, die Schuhe auszuziehen, dann steht man auch schon auf dem weichen hellblauen Teppich unter der großen Kuppel.
Gloria arbeitet als Näherin in einer Fabrik, abends sitzt sie gern in einer der Konditoreien in der Rruga Kole Idomeneo. In dieser Fußgängerzone gibt es so viele Kaffeehäuser, dass man vor lauter Sonnenschirmen kaum mehr die historischen einstöckigen Geschäfts- und Wohnhäuser fotografieren kann, sie leuchten orange, gelb und rosa und haben Fensterläden aus Holz. Daneben verläuft die Rruga Gjuhadol, hier stehen zum Teil nur mehr die Fassaden – das sei noch immer besser, als sie abzureißen und Baulücken zu lassen, meint die Stadtverwaltung.
Wahrheit und Retusche
Hier ist das kulturelle Viertel Shkodras – wer sich in den Nebengassen verläuft, entdeckt winzige Ateliers. Der Maler Shpëtim Garuci verkauft Ansichten aus seiner Stadt zu unglaublich günstigen Preisen. Großzügig, wie die Menschen hier sind, verschenkt er ein aufwendig gedrucktes Buch mit seinen Bildern dazu. Auch die Fototeka Marubi ist hier zu Hause, drei Generationen von Fotografen haben 150.000 Fotoplatten hinterlassen und zeichnen damit ein Bild der Stadt von 1858 bis 1974. Die Zeitdokumente umfassen bürgerliche Familien, Freiheitskämpfer, Alltagsszenen; faszinierend sind die retuschierten Fotos aus der Zeit Hoxhas – Manipulation und Fake News gab es damals auch. Das Original von 1936 zeigt, anlässlich des Begräbnisses von zwei Patrioten, die politische und geistliche Führung Shkodras auf dem Rathausbalkon, darunter auch Hoxha. Während seines Regimes wurden alle Personen entfernt – der Diktator steht allein auf dem Balkon.
Zeit lassen und plaudern
Während des Essens im Rozafa Seafood in der Marin Bicikemi bietet die mehrspurigen Straße ein buntes Verkehrsspektakel. Viele Radler sind unterwegs, sie haben Radwege, die aber meist von Eltern mit Kinderwagen, Fußgängern oder parkenden Autos benutzt werden. Wer parkt, lässt gern die Autotür in Richtung Straße offen und unterhält sich angeregt mit einem gerade vorbeigehenden Bekannten. Radler und Autos schlängeln sich friedlich vorbei. Da Touristen aus Westeuropa selten sind, fallen sie auf – eine albanische Familie vom Nachbartisch bietet an, miteinander einen Kaffee zu trinken. Der Mann ist Zivilingenieur beim Straßenbau und hat in Luzern ein Praktikum gemacht, daher haben sie gerade den Schweizer Pater André zu Besuch, der dolmetscht.
„Nach dem Fall des Kommunismus wurde die erste Messe auf einem Friedhof in Shkodra gefeiert, 300 Menschen kamen am 4. November 1990 zusammen, noch illegal. Am nächsten Sonntag waren es schon Ttausende Gläubige, Katholiken wie Muslime, darunter auch ich und meine Frau“, erzählt der Zivilingenieur. Nahe dem Restaurant steht die Kathedrale Kisha e Madhe, sie diente im Kommunismus als Sporthalle. Im oberen Stock befindet sich eine Ausstellung, in der ein Foto der Kathedrale vom März 1991 hängt, auf dem Boden sind Sportfeldmarkierungen zu sehen, dahinter erheben sich Zuschauerränge.
Und dann ist da ein Foto der Messebesucher auf dem Friedhof vom 11. November 1990, darunter sind wohl irgendwo die netten Bekannten vom Restaurant. Sie haben es sich übrigens nicht nehmen lassen, die Gäste auf den Kaffee einzuladen. Beim Verlassen der gastlichen Stadt fällt auf, dass es hier kaum Verkehrszeichen gibt. Wer in einen Kreisverkehr fährt, sollte wissen, wo er hinausmuss. Sonst heißt es zurückzufahren – bei dem entspannten Verkehr kein Problem. Östlich von Shkodra liegt die Brücke Ura e Mesit. Von den Osmanen im 18. Jahrhundert erbaut, ist sie die am besten erhaltene Steinbrücke.
Als besondere architektonische Feinheit überspannt sie den Fluss nicht gerade, sondern hat in der Mitte einen Knick. Im Süden erhebt sich auf einem steilen Hügel die Burg Rozafa und bietet einen weiten Blick auf den Skutarisee. Römer, Venezianer und Osmanen eroberten sie und bauten die Burg zur Festung aus. Heute ist vieles verfallen, doch die Zinnen geben für einige junge Albaner eine perfekte Mutprobe ab: Wer schafft es, von einer Zinne zur andern zu springen? Vor der roten albanischen Fahne mit dem schwarzen Adler ein Bild von jugendlichem Übermut – charakteristisch für dieses Land, in dem jeder gelernt hat, nach der Isolation im Kommunismus und der darauffolgenden Anarchie und Korruption sich selbst durchzuschlagen.
Filmsee mit Fjorden
Von Shkodra lohnt ein Ausflug zum Koman-Stausee. Dieses riesige Projekt wurde in den 1970ern umgesetzt, seither wird fast ganz Albanien von dort mit Strom versorgt. Die Straße wird auf halber Strecke zur Schotterpiste mit unzähligen Schlaglöchern, und so summieren sich die letzten 30 Kilometer zu 1,5 Stunden Fahrzeit, begleitet von riesigen rostenden Strommasten.
Die Fähre startet am nächsten Tag, Ziel ist daher der Campingplatz Natura, der auch Zimmer vermietet, am unteren Ende des Stausees. Der aufkommende Sturm weht Schotterstaub auf, die letzten Meter führen über eine alte Betonbrücke, an der zum Großteil das Geländer fehlt, darunter undurchdringlich graugrünes Wasser, die starken gelben Lichter des E-Werks beleuchten die graurote felsige Industrielandschaft – Endzeitstimmung. Kaum zu glauben, dass bis zum Bau der Autobahn 2008 die Verbindung in Richtung Kosovo hier verlief. Auf dem Campingplatz treffen sich dann Steiermark, Salzburg, München, Basel und Wien.
Die Beladung der Fähre am nächsten Morgen ist ein Spektakel. Die Rampe passt nur für hohe Allradautos, daher trägt förmlich eine Unzahl schlanker junger Albaner die niedrigen Pkw sorgsam auf das Schiff. Sie suchen Bretter zum Unterlegen, dann schlichten sie die Autos so eng, dass sie durchs Fenster aussteigen müssen. Mit Verspätung geht es los, bis Fierze sind es zwei Stunden Fahrt durch eine imposante Fjordlandschaft. Bewaldete Bergflanken versinken im Wasser, das seine Farbe von Moosgrün bis Blaugrün wechselt. Nun wird klar, warum der Koman-See in fast jedem albanischen Film vorkommt. Die Fährmänner aber haben kein Auge für die Fjorde, sie liefern sich lieber ein Wettrennen mit der zweiten Fähre – da ist er wieder, der Übermut.
Altes Land mit Neuland
Albanien: Ein Land im Aufbau, daher gibt es im Internet noch wenig Infos. Überblick bietet unter www.albania.al das albanische Tourismusbüro.Empfehlenswert ist das Portal www.albanien.ch, Individualreisende finden hier aktuelle Informationen zu Straßenzustand, Routen und Ausflügen. Im gut betreuten Forum werden Fragen prompt beantwortet.
Shkodra: www.Shkoder.net
Buchtipp: „Albanien“ von Meike Gutzweiler im Reise Know-How Verlag.
Kosten: Das Preisniveau ist sehr niedrig, man sollte daher kleine Scheine mitnehmen, sonst ist das Herausgeben von Wechselgeld oft schwierig.Hotels: Vor Ort oder via booking.com.
Koman-See: Fähren und Anreise: Berisha, man bietet auch ein Busservice von Shkodra an, https://komanilakeferry.com/en, oder Alpin: http://alpin.al.
Quelle: https://diepresse.com/home/leben/reise/5425199/Shkodra_Eine-Stadt-steht-wieder-auf