Das Strafrecht im „Kanun von Lekë Dukagjini“

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Kanuni i Lekë Dukagjinit

Das Strafrecht im „Kanun von Lekë Dukagjini“

Das albanische Gewohnheitsrecht

— von Kan. lic. iura. Zef Ahmeti, Univ. St. Gallen, Schweiz

I. Einführung
Zef Ahmeti Der albanische Ausdruck für das Gewohnheitsrecht der Albaner ist Kanun. Dieses Wort ist aus dem Sumerischen (gi, Rohr) über das Akkadische (qanu, Rohr) ins Hebräische (qane, Rohr) entlehnt und von da aus ins Griechische (kanna, Rohr) übernommen worden und wurde zu kanon weitergebildet und bedeutet „Regel, Norm“. Die Hauptbedeutung des Kanun auf Albanisch ist das Gewohnheitsrecht.

Die Quellen des Gewohnheitsrechts der Albaner sind: Kanuni i Skënderbeut, Kanuni i Malsisë së Madhe, Kanuni i Labërisë, Kanuni i Lekë Dukagjinit (KLD). In dieser Arbeit werde ich das bekannteste Gewohnheitsrecht der Albaner bzw. das Strafrecht im Kanun von Lekë Dukagjinit (KLD) behandeln.
Princ Lekë Dukagjini - pikturë nga Simon Rrota Die Aufnahme des KLD in schriftlicher Form aus mündlicher Überlieferung wurde vom Franziskaner Shtjefën Gjegjovi von Kosova gemacht. Die von ihm gesammelten Rechtssatzungen begann er im Jahre 1913 in der Zeitschrift der albanischen Franziskaner Hylli i Dritës zu veröffentlichen. Nach seiner Ermordung durch Serben am 14.10.1929 systematisierten andere Franziskaner das hinterlassene Material und veröffentlichten es unter „Kanuni i Lekë Dukagjinit“. Das Gewohnheitsrecht „Kanuni“ war in 1263 §§ und in zwölf Bücher eingeteilt. Der Kanun regelte sowohl zivilrechtliche- als auch strafrechtliche Fragen. Dieser Kodex war gleichzeitig die eigentliche albanische Verfassung für viele Jahrhunderte bis zum Zweiten Weltkrieg.

II. Das Strafrecht im „Kanun“
Die Strafjustiz des Kanun war eine Mischung aus öffentlicher und Selbstjustiz. Die natürliche Person allein war nach diesem Gewohnheitsrecht rechtsfähig. In der Person unterschied man zwischen dieser selbst und ihrem Zubehör.

Aufgrund dieser Unterscheidung schützte das albanische Gewohnheitsrecht folgende Güter:

a. die Güter des Körpers und
b. der Seele.

Unter Zubehör der Person fallen:
c. die Handlungen und
d. die Verhältnisse.

a. Die Güter des Körpers

Die Güter des Körpers nach dem Gewohnheitsrecht der Albaner konnten durch Schlag, Verstümmelung und durch Tötung verletzt werden.

a. a. Die Schlägerei

Der Schlag war Folge eines Zorns, eines Wortgefechtes oder einer Drohung. Schlägereien zwischen den Erwachsenen einerseits und den Kindern anderseits, wurden unterschiedlich behandelt.

Eine Schlägerei, die zwischen zwei Erwachsenen geschah, und wenn daraus Blut floss, wurde eher als Ehrverletzung als Körperverletzung verstanden. Wenn die Körperverletzung nicht so groß war, konnte der verletzte am Körper es in der derselben Weise dem Schläger heimzahlen. Die Prügeleien in der Öffentlichkeit sowie jene Prügeleien, die zu Ohren der Öffentlichkeit gelangten, erzeugten einen steigenden Hass.

Die Schlägerei zwischen Kindern wurde nicht so ernst genommen. Auch wenn das Kind von einem Mann aus der Verwandtschaft geschlagen wurde, wurde es vorausgesetzt, dass es zur „Strafe geschehen sei“.

a. b. Die Verstümmelung
Kanuni i Lekë Dukagjinit Unter Verstümmelung versteht man das Abtrennen oder die Verletzung irgendeines Körperteiles. Im Kanun fiel unter Verstummelung eine Verwundung, welche durch die Waffe verursacht wurde. Das albanische Gewohnheitsrecht machte keine große Unterscheidung zwischen absichtlicher und unabsichtlicher Verstümmelung. Die unabsichtliche Verstümmelung wurde mit mehr Nachsicht bemessen. Der Grund für diese unscharfe Unterscheidung lag wahrscheinlich darin, dass dem Täter die Möglichkeit genommen werden sollte, zu seiner Verteidigung vorbringen zu können, dass die Tat fahrlässig seinerseits geschehen sei, wenn er auch vorsätzlich die Wunde zufügte.

Absichtlich waren dann die Fälle, wenn jemand vorsätzlich die Waffe gegen einen anderen richtete und ihn verwundete. Dagegen unter unabsichtliche (fahrlässige) Verstümmelung verstand man, jene durch Zufall und ohne Absicht zufügte Wunde. Dies trat dann ein, z.B. wenn jemand den Feind treffen wollte aber einen Unbeteiligten trifft.

Unabhängig davon, ob man absichtlich oder unabsichtlich jemandem durch die Waffe eine Wunde zufügte, hatte der Verwundete das Recht, sich nach dem Prinzip „Wunde für Wunde“ zu rächen.

a. c. Die Tötung und die Blutrache

Um die Blutrache unter den albanischen Stämmen bildete „sich eine eigene »Genre« der Blutrachegeschichtsschreibung heraus, in dem insbesondere österreichische und deutsche Reisende und Wissenschafter tätig waren. Die Blutrache wurde den Lesern als etwas Sensationelles präsentiert.“ Je nach Autor, erweckten sie den Eindruck, das Leben der Albaner habe sich nur um Blutrache gedreht. Dieser Meinung schließe ich mich nicht an.

Das Wesen der Blutrache bestand darin, dass einer das Recht hatte, die Tötung des eigenen Blutsverwandten zu rächen. Nach Kanun unterschied man zwischen Vergeltung (hakmarrja) und Blutrache (gjakmarrja). Die Vergeltung kam zum Zuge, wenn jemand durch Stehlen am Vermögen beschädigt wurde. Der Geschädigte hatte das Recht für sein gestohlenes Vermögen eine Vergeltung auszuüben nach der Maxime „Stehlen für Stehlen“. Die Blutrache war eine Folge der früheren begangenen Morde oder Verletzungen der Ehre. Der Täter, gestützt auf Kanunregeln, war jener, der mit eigener Hand tötete (§ 848). Andere Beteiligte in einem Mord bzw. Blutrache waren der Helfer/Mittäter (§ 831), der Helfershelfer (§ 766). Dazu mehr unten.

Von der Blutrache wurden eine gewisse Gruppe von Personen geschont, wie Frauen, Kinder, der Priester, alte und kranke Menschen sowie Geisteskranken.

Der Totschlag ohne Absicht wurde nicht mit Büchse verfolgt. Der Täter musste aber versteckt bleiben, so lange, wie es im Kanun heißt, „das Blut heiß ist“ (die Erregung dauerte) und die Sache gut untersucht und geklärt war (§ 933ff). Nun traten die Vermittler (sog. „vernünftige Leute“) ein, um zu bestätigen, dass wirklich der Totschlag unbeabsichtigt war. Wenn die Vermittler feststellten, dass der Totschlag ohne Absicht war, musste der Täter nur eine Blutbusse zahlen (§ 934).

Nach einer Durchführung der Blutrache musste der Täter (dorërasi) selbst die Öffentlichkeit und die Familie des Opfers informieren, dass er Blutrache übte. Im Falle einer Tötung oder Blutrache war es dem Täter verboten Massaker am Opfer auszuüben. Wenn jemand nach der Tötung am Körper des Opfers weitere Wunden mit einem Messer zufügte, wurde der Täter mit doppeltem Mord belastet, d.h. er musste nicht nur für einen Mord zur Verantwortung gezogen werden, sondern für zwei.

Die Frau blieb von Blutrache verschont. Gegen sie durfte man keine Blutrache ausüben. Wenn keine männliche Person im Hause war, und die Rache noch nicht vollzogen war, musste die Frau rächen. Sie durfte nur im Falle des Ehebruches umgebracht werden, ansonsten war die Tötung einer Frau – sei es absichtlich oder unabsichtlich – eine große Schande. Sogar selbst die Waffen, durch die eine Verwundung oder Tötung verursacht wurde, galten als „wertlos“ (unwürdig) um sie für Kriegszwecke zu verwenden.

Wenn der Täter ohne Berechtigung (für jemand anderen) Blutrache ausübte, wurde sein Haus verbrannt und niedergerissen, das gesamte bewegliche Vermögen, wie etwa Hausrat, Getreide, Vieh wurde konfisziert. Er musste die Wohnstätte und sein Stammgebiete mit der ganzen Familie verlassen und eine Busse bezahlen.

a. d. Vermittlung und Friedensgelöbnis

Der Vermittler (ndermjetsi) heißt jener, der sich einmischte, um über „böse Worte zu entscheiden“ (për me da fjalët e kqia) d.h. die gestiegene Spannung als Folge der Wortwechsel, Gerede, die zur Rache führen konnten, abzuwenden, aus der Totschlag und anderes Verderben entstehen konnte (§667). Der Vermittler hatte überall zutritt. Vermittler konnte Mann und Frau (sehr selten und nur in kleine Sachen) sein, auch der Priester (§ 669). Um über ein Übel zu entscheiden, mischte sich der Priester nicht im eigenen Namen ein, sondern im Namen der Pfarrgemeinde oder des Stammes (§ 675). Meistens waren die erfahrenen Männer Vermittler.

Der Mörder konnte nach begangener Tat irgendeinen Freund um Vermittlung bei den Verwandten (Familie) des Getöteten wegen Zugestehung einiger sog „freier Tage“ (Gelöbnis) um das Friedensgelöbnis für einige Tage erhalten zu können. Während des Friedensgelöbnisses durfte keine Rache ausgeübt werden. Derjenigen Person, die selbst den Mord ausführte, wurde das Gelöbnis äußerst selten gewährt.

Der Gottesfriede (besa) war im Kanun eine Frist der Freiheit und der Sicherheit, die das Haus des Getöteten dem Täter und seinen Familienmitgliedern gewährte, um ihn nicht sofort und vor einer bestimmten Frist für das Blut zu verfolgen. Die Gewährung eines Friedensgelöbnises betrachtete man als Pflicht der Männlichkeit (§ 854ff).

Der Kanun kannte zwei Arten des Friedensgelöbnisses: 24 Stunden und 30 Tage. Das 24 Stunden Gelöbnis trat ein, wenn das Haus des Erschlagenen dem Täter Friedensgelöbnis gewährte, so nahm dieser (der Täter), obschon er ihn getötet hatte, an Totenfeier und Klage teil und ihn zu Grabe geleiten. Dieses Friedensgelöbnis dauerte nicht länger als 24 Stunden. Nach Ablauf dieser 24 h. Friedensgelöbnisfrist konnte das Dorf vermitteln um dem Täter und seinen Hausmitglieder ein weiteres Gelöbnis von 30 Tage zu entziehen. Gewährte das Haus des Erschlagenen dem Dorf kein Frieden für die Familie des Täters, musste der Täter mit seinen Hausmitgliedern eingeschlossen bleiben, es trat eine Art Hausarrest, Hausgefängnis ein.

Während des vom Vermittler in einem Streit erreichten Waffenstillstandgelöbnisses, war es verboten Rache auszuüben. Tötete aber der Gelobende den Feind bevor die Frist des Waffenstillstandes ablief, so oblag dem Gelöbnisempfänger (d.h. dem Vermittler) Rache für das verletzte Gelöbnis zu nehmen.

Jene, die zu den Eltern und Vettern des Getöteten gingen, um für den Täter und sein Haus den Gottesfrieden erlangten, nannte man Friedensbringer (bestari). Sie galten als Schützer des Täters und seines Hauses, damit diesen kein Übel geschehe innerhalb des Friedensgelöbnisses (§851ff).

a. d. a. Die Vermittlung des Blutes (dorzanët e gjakut)

Eine andere Art der Vermittlung im Kanun war die Vermittlung des Blutes (dorzanët e gjakut). Vermittler des Blutes war jener, der sich im Haus des Erschlagenen bemühte, ihn mit dem Täter auszusöhnen. Der Vermittler (es können mehrere sein), wurde vom Haus des Täters gesucht bzw. gewählt (§ 972ff). Eine Versöhnung des Blutes konnte auf zwei Ebenen gemacht werden:

1. indem die Herzensfreunde ins Haus der Erschlagenen und des katholischen Pfarrers gingen;
2. durch Geld an das Haus der Erschlagenen.

Die Bürgen für das Geld des Blutes wählte das Haus der Erschlagenen. Der Bürger des Blutes (dorzani i gjakut) war Vermittler, der eingriff, um jede „Erneuerung von Hass und Brand“ zu verhindern (§ 974ff). Die Frist für die Zahlung des Geldes für das Blut bestimmten die Ältesten und die angesehenen, vernünftigen Männer des Ortes. Die für das Blut festgesetzte Zahlungsfrist konnte weder verlängert noch verändert werden.

a. d. b. Die Blutsbruderschaft, das Bluttrinken (Vllaznimi, me pi gjak)

Dies geschieht, wenn sich der Täter mit seinem Haus und dem Haus des Erschlagenen versöhnten. Die Beteiligten tränkten wechselseitig ihr Blut. In zwei kleine Gläser füllten sie mit Schnaps (Raki) oder Wasser. Einer von der Freunden (ndonjë prej dashamirësh) verband den kleinen Finger dem Täter und dem „Herr des Blutes“, und durchstach sie mit einer Nadel und ließ ein Blutstropfen einzeln in die Gläser fallen. Nach Vermischung des Blutes tauschten sie die Gläser und reichten sie sich mit überkreuzten Händen, so dass jeder das Blut des anderen trank. Mit „1000 Freudenrufen (Glückwünsche, Gratulationen) schossen sie mit der Büchsen ab“ und wurden von Feinden zu Brüdern, wie es im Kanun hieß: „Neue Brüder desselben Vaters, derselben Mutter“ (§988).

b. Das Gut der Seele

Unter dem Gut der Seele war hauptsächlich die Ehre zu verstehen. Nach albanischem Gewohnheitsrecht duldete man eher den Tod als die Verletzung der Ehre. Eine Verletzung der Ehre konnte auf drei Ebene erfolgen:

a. Schändung von Frauen,
b. Wegnahme der Waffe,
c. Verletzung des Schutzrechts.

Diese Arten der Ehreverletzungen waren so schwer, dass sie nur mit Blut abzuwaschen waren. Für diese Verletzung der Güter der Seele gab es weder Gnade noch eine Möglichkeit, wodurch sie mit Geldbusse beglichen werden konnten.

b. a. Die Schändung der Frauen

Dieses Verbrechen kam selten vor. Aber falls bemerkt wurde, dass eine Frau vergewaltigt wurde, wurde der Vergewaltiger verfolgt und bestraft. Der Vergewaltiger musste früher oder später für seine Tat „mit seinem Blut sühnen“. Wurde aber ein Ehebruch festgestellt, dass der Geschlechtsverkehr mit Einverständnis der Ehefrau geschah, dann büßten beide mit eigenem Blut. Ließ jemand sich aber mit einem verlobten Mädchen ein, so stand die Familie des Täters in Blutrache mit der Familie des Bräutigams. Die Ehre der Frau war Bestandsteil der Ehre des Mannes. Wurde sie entehrt, war dies die schwerste Verletzung der Ehre eines Mannes.

b. b. Verletzung der Ehre durch Waffenraub

Eine Verletzung der Ehre durch Waffenraub war zweierlei: öffentlich oder heimlich. Öffentlicher Waffenraub geschah wenn man die Waffe mit Gewalt oder Zwang ausliefern musste. Der heimliche Waffenraub anderseits konnte nach Diebsart zur Nachtzeit oder Tag gemacht werden. Es ist interessant, dass der öffentliche Waffenraub für den Geraubten eine Schande war. Für den Geraubten war der öffentliche Waffenraub sogleich auch eine Entehrung. Aus diesem Grund durfte er sich nicht in der Öffentlichkeit blicken lassen solange er nicht mit Blut „die größere Schmach“ getilgt hatte. Die Sanktion für den heimlichen Waffenraub war milder. Man konnte dem Dieb verzeihen, musste aber dafür eine Taxe leisten in der Höhe wie für einen Mord.

Ehrverletzungen konnten nicht durch Sachleistungen abgegolten werden. Für die geraubte Ehre gab es keine Busse. Sie konnte nicht durch Gegenstände ersetzt werden, sondern nur durch das Vergießen des Blutes oder durch die edle Vergebung nach der Vermittlung der Herzensfreunden(§ 597- 600).

Eine weitere Unterscheidung in der Frage der Ehre machte das Gewohnheitsrecht der Albaner zwischen persönlicher Ehre (ndera vehtjake, § 593 bis 601) und gemeinsamer Ehre (ndera schoqnore, § 602-639).

b. b. a. Persönliche Ehre

Der Kanun der albanischen Berge unterschied nicht den Menschen von Menschen (§ 593). Für die Verletzung der persönlichen Ehre sagte der Kanun: „wen du willst, verzeihe ihm; magst du (oder), so wasche die getrübte Stirn“ (§ 595), d.h. rächen. Nach § 596 hatte jeder seine Ehre für sich selbst, und niemand konnte sich einmischen. Es bestand eine Art des Diskriminierungsverbots zwischen den Männern. Das Leben des Guten und des Bösen hatte denselben Wert: „der Kanun nimmt(betrachtet) beide für (als) Männer“ (§594). Gestützt auf diese beiden Bestimmungen sowie auf die Regel in § 887, die besagt: „der Preis des menschlichen Leben ist gleich für den Guten wie Bösen“, ist eine Art Gleichbehandlungsprinzip zu entnehmen, dass aber nur zwischen Männern galt. Die geraubte persönliche Ehre konnte nicht durch Busse wiederhergestellt werden, sondern nur mit Blut (Tötung) oder Vergebung ( Ndera e marrun nuk shperblehet me gja, por a me të derdhun të gjakut, a me të falun fisnikërisht. § 598).

b. b. b. Die öffentliche Ehre

Die öffentliche Ehre umfasst die Frage des Gastes im Hause, Gastfreundschaft und Hausrecht. Unter Schutzrecht wurde das Schützen eines Gastes (mikut) verstanden. Man unterschied zwischen Verletzung der Gastfreundschaft und Hausrecht. Diese Unterscheidung werden wir in zwei Beispielen illustrieren:

Beispiel 1: Hausrecht

Der X kommt in das Haus Y. Solange X im Haus des Y blieb, war Y verpflichtet für die Sicherheit des X. Stoß dem Y im Haus des X irgendetwas zu, so war der X verpflichtet ihn zu rächen, weil die Gewalttat an Y als eine Verletzung des Hausrecht galt.

Beispiel 2: Gastfreundschaft

Unter Verletzung der Gastfreundschaft war dagegen der Fall zu verstehen, wenn Y der Täter selbst war, und sich im Haus des X befand, durfte er von X auf keinem Fall Schaden erleiden, bis er zu einem anderen Haus ging, weil dies eine Verletzung des Gastfreundschaftprinzips bedeutete.

c. Diebstahl und Raub

Gemäss Kanun war unter Raub den Erwerb des Eigentums über eine fremde Sache durch offene Gewalt zu verstehen (§ 768 Buchst. h sowie § 777ff.), während der Diebstahl heimlich geschieht. Der Dieb war nach Kanun jener, „der mit eigener Hand Fremdes entwendete“ (§ 768). Der Raub mit offener Gewalt wurde als Verletzung der Ehre verstanden.

c. a. Helfer/Mittäter

Als Beteiligter an einem Diebstahl waren gemäss Kanun, der Dieb selbst (cubi), der Helfer (simahorët), jenes Hauses, wo die Diebe mit dem Gestohlenen essen, oder Brot bekamen. Hehler oder Mittäter war auch, wer das gestohlene Gut versteckte („Der Dieb und Hehler sind gleichschuldig“, §768 Buchst. d). Half jemand, der nicht im Blut stand, jemandem Blutrache auszuüben, fiel er ins Blut (§ 831). Die Sanktion für ein gestohlenes Gut an Vermögen war nach Prinzip „zwei für eins“ gerichtet. Das „Zwei für Eins“ wurde sowohl für Großvieh als auch für Kleinvieh oder für den gestohlenen Gegenstand.

Beispiel:

Wenn ein Dieb eine Kuh stahl, hatte der Eigentümer das Recht sie zu nehmen, wo immer sie fand, auch wen jemand die gestohlene Kuh kaufte. Falls der Verkäufer (der Dieb) gefasst wurde, musste er für die gestohlene Kuh den Eigentümer den Wert von zwei Kühen bezahlen, bzw. den Eigentümer nach dem Prinzip „Zwei für Eins“ entschädigen, und der Dieb musste dem Käufer die ganze bezahlte Summe zurückgeben.

c. b. Der Helferhelfer

Eine Form der Täterschaft im Kanun war der Helfershelfer. Helfershelfer war jener, der durch verbrecherische Einmischung und hinterrücks jemandem half, ein Verbrechen zu begehen( § 766). Die Strafe für solche Hilfe und Hehlerei war unterschiedlich. Beim Helfen bei einer Frauenentführung fiel er ins Blut und musste dem Dorf eine Busse in Höhe von 100 Groschen zahlen, auch bei Mord fiel er ins Blut und musste dem Dorf 500 Groschen zahlen, sowie für jede Dieberei und jedes Gut, das im Dorf gestohlen wurde, wude er nach dem Kanun gebüßt, „sobald er erkannt (entdeckt) wurde“ (§ 767).

III. Die Gerichtsbarkeit
Das Gewohnheitsrecht der Albaner kante kein Gericht im Sinne der heutigen Gerichte. Als Gericht galt der Rat der Ältesten (kanuni i pleqnis). Die Ältesten waren entweder Vorsteher der Bruderschaft (të parët e vllaznive) oder die Häupter der Sippen (Krenët e fiseve). Ohne ihre Teilnahme galt jede Entscheidung oder Handlung als ungültig (§993). Zu den Ältesten gehörten auch die Männer, die für ihre Klugheit bekannt waren, und Erfahrung in Gerichtsbarkeitsfragen und Ältestenrat hatten. Die Ältestenrat – genannt auch Volksrichter – waren zumeist ganz gewöhnliche Menschen, die sich weder durch Herkunft noch soziale Schicht oder sonst von den anderen unterschieden. Sie wurden zu Volksrichter nur durch ihre besondere Begabung, Sachverhalte schnell zu begreifen, zu deuten und darüber Kanungerecht, ehrenhaft und plausibel zu urteilen.

a. Gerichtsarten

Das albanische Gewohnheitsrecht kannte zwei Arten der Ältestenräte. Für den kleinen Ältestenrat (§ 999) wurden die Greise des Dorfes genommen, nach Bruderschaft und Sippen, die für weniger große Streitigkeiten entschieden. Schwerwiegende Angelegenheiten, die die Ehre von Dorf und Stamm verletzten, wurden durch die Dorfältesten und Stammeshäupter beurteilt (§1003). Um ein Urteil fällen zu können, mussten die Ältesten und Häupter des Stammes die Ältesten und Überältesten des Dorfes miteinbezogen, in dem der Verdächtige wohnte (§1004). Betraf ein Ältestenbeschluss ein ganzes Dorf oder einen Stamm, hatten die einzelne Volksrichter (Älteste) nicht das Recht, die Sache in die Hand zu nehmen. In solchen Fällen (Sachverhalte) wurde „von den gesetzlichen Ältesten des Dorfes oder Stammes erwogen“ (entschieden) (§1009). Unter Rat der Ältesten fielen alle, d.h. auch wenn es sich um angesehene Familien handelte, oder Stammeshäuptlinge (§ 1014).

b. Rechten und Pflichten der Ältesten

Auch die Ästesten, die ihre Arbeit als Richter ausübten, hatten nach Kanun Rechte und Pflichten.

Gemäss § 996 hatten die Ästesten das Recht, jede Drohung und jeden Streit zu schlichten, jeden aus Totschlag erwachsenen Anspruch, das eine Mal durch Güte, das andere Mal durch Gewalt, in Gemeinsamkeit mit dem Dorfe, sogar bei sehr ernsten Bedrohungen (der Ordnung) konnten sie die Unterstützung der Männer des Stammes fordern, um „die außer Rand und Band Geratenen zur Vernunft zu bringen“. Weiter, wenn jemand sich dem unparteiischen Spruch nicht fügen wollte, konnten die Ältesten das Dorf versammeln. Wurde ein Spruch gefällt, und die Streitparteien bereuten, dass sie den Ältesten das Pfand für die Unterwerfung ausgehändigt hatten, konnten die Ältesten nicht mehr gewechselt werden (§ 1001).

Die Pflicht der Ältesten war die Unparteilichkeit, und sie durften nicht von Gerede beeinflusst werden (§1015). Falls diese Pflichten von einem der Ältesten verletz wurde, wurde er als ehrlos und nie mehr zum Ältesten gewählt. Bevor man mit dem Prozess begann, mussten die Ältesten einen Eid ablegen, dass sie nicht mit Hinterhältigkeit und Parteilichkeit urteilen würden, und dass sie die Kanunregeln nicht verdrehen (missbrauchen) würden, sondern ein gerechtes Urteil nach besten Wissen und Gewissen fällen.

c. Gerichtsinstanzen

Im Gewohnheitsrecht der Albaner galt die Vorschrift „Ältesten über den Ältesten, Urteil über Urteil, Eid über Eid gibt es nicht“ Aufgrund dieser Bestimmung, ist zu schließen, dass der Kanun nur eine Instanz der Gerichtsbarkeit kannte. Eine Berufung gegen die Urteile der Ältesten folgte nur in Ausnahmefall, und zwar konnte sie nicht seitens der Parteien erhoben werden. Dazu waren nur die Besitzer der Pfänder berechtigt, wenn sie feststellten, dass ein ungerechtes Urteil gefällt wurde. Die Ältesten gaben die Pfänder nicht zurück, sondern waren verpflichtet, wie es heißt „sich reinzuwaschen“, d. h. in dem sie deren Pfänder in den Händen von ihnen selbst gewählten Ältesten lagen, und somit wurde das Urteil von den zweiten Ältesten gefällt (§ 1038ff).

d. Die Stimme des Volkes beim (im) Gericht

Wenn eine Entscheidung der Häupter und Ältesten dem Volk nicht gefiel, oder sie fanden, es sei falsch entschieden worden, hatte das Volk das Recht sich ihr nicht anzuschließen. In einem solchen Fall mussten die Häupter und Ältesten wieder den Fall neu beraten, behandeln.

e. Die Beweismittel

Das albanische Gewohnheitsrecht im Gerichtsverfahren nach Kanun kannte folgende Beweismittel: Zugeständnis, das Ehrenwort, der geheime Ankläger (këpucari), (war jene Person, die jemandes Schuld anzeigt, wie etwa einen geheimen Diebstahl oder Mord), der Eid, der Eideshelfer, die Zeugen, die Spurenverfolgung(§ 769), die Bürger des Dorfes, sowie das Ertappen am Tatort (inflagranti).

f. Strafarten

Gemäss § 13 des Kanun unter Strafe wurde ein Übel verstanden, dass durch die gesetzliche Gewalt für getane Schuld auferlegt wurde. Die Arten der Strafe in das albanische Gewohnheitsrecht waren: Todesurteil, das Ausstoßen aus dem Stamm mit Angehörigen und Besitz, das Verbrennen des Hauses, das Brachlassen des Bodens oder das Abschneiden der Fruchtbäumen, die Busse mit lebendem Vieh, die Busse durch Geld, und der Schuldige (der Täter) wurde durch den Stamm für Vogelfrei erklärt (ausgeschellt, ausgerufen, me leçitë= ausschellen). Lebendiges Verbrennen einer Frau, Witwe oder Mädchen, die sich als geschändet erwiesen.

IV. Rechtsvergleichung: Die deutsche Strafrechtspflege und das albanische Gewohnheitsrecht
Die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege beinhaltet einige gemeinsame Elemente mit dem albanischen Gewohnheitsrecht aber auch sehr große Unterschiede. Während die deutsche Strafrechtspflege sich von Gewohnheitsrecht zum positiven Recht entwickelt hat, das albanische Gewohnheitsrecht ist, heute noch, im Nordalbanien parallel mit dem albanischen positiven Recht am leben (wie etwa die Blutrache) geblieben.

Die Rache und Fehde, die Ähnlichkeiten mit jenen im Kanun haben, waren auch in der germanischen Zeit präsent. Der Sinn der Rache und Fehde war nach germanischer Auffassung die „Demütigung des Gegners und seiner Sippe“. Die Blutrache war in der deutschen Geschichte bis ins 16. Jahrhundert. Mit der Gottesfriedensbewegung um 11. Jahrhundert, bekannt als kirchliche Bewegung, hat man versucht eine Befriedung gewisser Personen, Orten Sachen sowie gewisser Zeiten gegenüber Fehdehandlungen zu begrenzen, um später durch die Landesfrieden abgelöst zu werden.

Das albanische Gewohnheitsrecht kannte den Inquisitionsprozess nicht. Haft- und Körperstrafen, Verstümmelungsarten wie in der deutschen Strafrechtspflege und Folter kommen nicht vor, weil sie nicht mit Ehre der erwachsenen Männer vereinbar wären. Während die katholische Kirche in der deutschen Strafrechtsgeschichte im Mittelalter eine Rolle gespielt hat, machte das albanische Gewohnheitsrecht eine Trennung zwischen Kanun und Kirche. Gemäss § 3 untersteht die Kirche nicht dem Kanun sondern ihrem kirchlichen Gericht. Aus diesem Grunde konnte das Stammesgericht ihr keinerlei last auferlegen. Für Verfehlungen des Priesters, sagte der Kanun, erhebt die Gemeinde Klage beim Kirchenoberen, beim Bischof (§ 3 Abs. 2.).

Von den Arten der Todesstrafe in der deutschen Strafgeschichte wie Hängen, Enthaupten, Lebendig begraben, Ertränken, Verbrennen, Rädern, Sieden in Wasser oder Öl, kannte das albanische Gewohnheitsrecht nur das Verbrennen. Die Verstümmelungsstrafen, die wir aus der deutschen Strafrechtsgeschichte kennen, wie etwa Abhauen der Hand, Abhauen einzelner Finger oder Fingerglieder, Abhauen eines Fußes, Abschneiden oder Ausreißen der Zunge, kamen im Kanun nicht vor.

Fazit
Wenn wir die albanische Geschichte zurückverfolgen, werden wir feststellen, dass das albanische Gebiet sehr eng mit allen Völkern, die auf dem Balkan eine Rolle gespielt haben, verwoben ist. Beginnend mit der Zeit der Gallier, Römer, Goten, die Einwanderung der Slawen in Illyrien, das mazedonische Kaiserreich, das byzantinische Königtum, sowie Normannen, Venedig, Serben, osmanische Reich, österreichisch -ungarische Reich, Italien, die nacheinander auf die albanische Gebiete herrschten, das albanische Volk, die Nachkommen der Illyrer, konnten nicht kontinuierlich ein staatliches Eigenleben führen. Nach 24 Jahren Widerstand der Albaner unter Führung von Gjergj Katrioti gegen das osmanische Reich wurden die albanischen Gebiete Teil des osmanischen Reichs vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Das Gewohnheitsrecht der Albaner war immer Ergänzungs- und zugleich Konkurenzrecht zum staatlichen Recht, zu dem der Türken, dem des albanischen Staates nach 1912, zum Recht der Besatzungsverwaltungen im I. und II. Weltkrieg.

Trotz dieser eigenartigen Geschichte konnte das albanische Volk eine eigene Rechtskultur entwickeln. In der letzten Zeit verwechselte man sehr oft die gewöhnliche Kriminalität mit der Blutrache. Für die Ausübung einer Blutrache, wie wir oben gesehen haben, musste man sich an bestimmte Regeln halten. Die Blutrache ist ein Aspekt eines umfassenden Rechtssystems, des Gewohnheitsrechts.

Die Gewohnheitsnormen sind heute wirklich überholt. Die Aufarbeitung des Kanun weist schwere Fehler auf. Zum einen gilt er als rückständig und mittelalterlich insbesondere wenn die Blutrache zur Sprache kommt. Andererseits sind aber auch schöne Sachen vorhanden, auf die man Stolz ist, wie Gastfreundschaft, Besa usw., die man gerne noch behalten würde.

Literaturverzeichnis
Hauptquelle

-Der Kanun, Übersetzung ins Deutsche von Marie Amelie Freiin von Godin, veröffentlicht in Kosovo, Pejë 2001.

Weitere Literatur
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– Brestovci Shkumbim, Bemerkungen über die Rolle des Kanun in der albanischen Gesellschaft, unveröffentlichte Arbeit.
– Basha Eqrem, Robert Elsie, Rexhep Ismajli (Hg.) Reisen in der Balkan, Die Lebenserinnerungen der Franz Baron Nopcsa, Pejë 2001.
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– Popovci Syrja: Shtjefën Gjegjovi 1874-1929, in: Kanuni i Lekë Dukagjinit, Prishtinë 1972, S. 1-93.
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– Schmidt Eberhard: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Göttingen 1965.
– Thallóczy Ludwig., Kanuni i Lekës, Ein Beitrag zum Albanischen Gewohnheitsrecht, in: Illyrisch-albanische Forschungen, Band I, München und Leipzig 1916.
– Wörtz Tilman, „ZWEI FINGERBREIT EHRE GAB UNS GOTT AUF DIE STIRN“, in: http://www.zeitenspiegel.de/autor/woertz/re1/main.html
– Wörterbuch des Christentums, Orbis Verlag, Wien 1995.
– Wolfgang Sellert/ H. Rüping: Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Scientia Verlag, Band I 1985.

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